Datum | 1957 |
höchste Platzierung | 6 |
Album | – |
Website | – |
WEHMÜTIGER KNAST-SCHLAGER
Häufig Fliege, gelegentlich Krawatte, schwarzer Anzug und ein bemerkenswerter Seitenscheitel: Johnnie Ray war der Inbegriff des amerikanischen Schlager-Entertainments Anfang bis Mitte der fünfziger Jahre – freilich mit kleinem „Schönheitsfehler“: Seit seinem 14. Lebensjahr musste er aufgrund seiner zunehmenden Taubheit ein Hörgerät tragen. Ansonsten waren ihm sämtliche Spielarten des inbrünstigen, hingebungsvollen, gelegentlich auch übertrieben dramatisierten Auftritts nicht fremd, was Ray zu einem der ersten Frauen-Lieblinge überhaupt machte, krawallartige Bühnenstürme enthusiatischer weiblicher Fans gehörten zur Tagesordnung. Als jedoch Elvis das Rampenlicht für sich vereinnahmte und der Rock´n´Roll die Blues-Periode ablöste, hatte Rays Plattenfirma Columbia den Trend bereits verschlafen – die Erfolge deren etablierter Künstler wie Guy Mitchell oder Frankie Laine nahmen spürbar ab und auch Johnnie Ray konnte sich mit den temporeicheren Songs eher schlecht als recht auf dem Markt behaupten.
Bis ins Jahr 1956 hinein waren seine Singles nahezu ausschließlich in Großbritannien chartsnotiert, dann gelang ihm jedoch mit „Just Walking In The Rain“ ein echter Welterfolg. Entstanden ist der Titel im Tennessee State Gefängnis in Nashville, in dem die beiden Häftlinge Johnny Bragg und Robert Riley untergebracht waren. Als beide eines regnerischen Tages über den Hof schlenderten, äußerte Bragg den Satz: „Here we are just walking in the rain, and wondering what the girls are doing.“ (Quelle: britische Wikipedia) Daraus könnte man doch glatt einen Song basteln, stellte Riley sinngemäß fest, worauf Bragg hierfür zwei Strophen verfasste und – da er selbst Analphabet war – diese von seinem Knastkumpel aufschreiben ließ. Bragg war zu jenem Zeitpunkt Gründer und Leader der „Prisonairs“, einer Bluesband, die innerhalb der Mauern des besagten Gefängnisses entstanden war und es dank eines Radioproduzenten kurze Zeit später zur regionalen Berühmtheit schaffte. Die Aufnahme von „Just Walking In The Rain“ bescherte ihnen sogar einen Eintrag in den R&B-Charts 1953. Doch erst die Interpretation von Johnnie Ray machte das Stück weltberühmt.
Text und Arrangement könnten kaum stimmiger sein: Das melancholische Daherschlendern durch den Regen, die versonnenen Gedanken an eine ehemalige Geliebte, während sich die Leute an den Fenstern über den einsamen Spaziergang des Interpreten inmitten dieses Unwetters wundern, das alles kommt dank des gemächlichen Tempos, der gepfiffenen Melodie und des rhythmisch-unterstützenden Männerchors perfekt zur Geltung. Und wer sich nach Betrachtung von Rays Auftritten und der putzigen Choreographie der Statisten in ihren Columbo-Mänteln im Video zum Song nicht mal wieder nach dem großen amerikanischen Film der 50er Jahre („Boulevard der Dämmerung“, „Rio Bravo“ etc.) sehnt, hat sich nie mit den nostalgischen Momenten seiner Großeltern auseinandergesetzt.
Aktuell: Johnnie Ray starb 1990 an Leberversagen.
Urteil: Gospel-/Schlager-/R&B-Monument, mit viel Verve und doch zugleich herzlicher Wehmut vorgetragen, mit hübscher Melodie und zeitloser Eleganz.Jan