Datum | 1994 |
höchste Platzierung | 1 |
Album | Never Stop That Feeling |
Website | http://www.markoh-official.de/ |
GNADENLOSER RAMMBOCKTECHNO
Südliches Münsterland, unweit der Lippe. Knapp 76.000 Einwohner. Dorsten. Ein etwas verschnarchtes Idyll gediegener Renaissance-Gemütlichkeit, zwischen St. Agatha-Kirche, der Zechensiedlung Hervest sowie dem Segelflugplatz am Kanalufer. Regelmäßig finden Festivitäten statt, naja das Übliche halt: Schützenfest, Lichterfest, Flachsmarkt in Wulfen. Alljährlich und sehr beliebt: der Dorstener Kultursommer. Da kommen sie, die ganz großen Stars: die drei Tenöre zum Beispiel, die Ritter Rost Band sowie Rebecca Kernbach. Aber er konnte nicht mehr. Er wollte nicht mehr. Jedes Jahr im August diese schauerliche Bierbörse mit Horden ramponierter Trunkenbolde, die zu den ewig gleichen Schlagern mithüpften und sich bis ins Delirium zudröhnten. Eines Tages würde er sich rächen. Marko. Marko Albrecht. Geboren am 23. Juni 1970. In Dorsten.
Mit Hardrock konnte man dem povinziellen Spießervolk nicht beikommen. Seine Band „Line Up“, in der er Ende der 80er Jahre spielte, war dafür nur schwerlichst geeignet. Doch er erkannte bald, dass seine Zeit kommen sollte. 1990 besuchte er das „King Castle“-Festival in Krefeld und fand hier die Erleuchtung: Den Techno. Mit „Love Song“ war er bereits stur auf Happy Hardcore-Linie – da war es Zeit für das ultimative Streubombenattentat auf alle verhassten Schlager- und Volksmusikfetischisten. Kein Geringerer als Michael Holm sollte daran glauben: „Tränen lügen nicht“, die Spießerhymne schlechthin, die Geriatriemusik für Birkenstockträger und „Hörzu“-Leser. Mark ‚Oh kannte keine Gnade.
„Tears Don´t Lie“ sollte sein Meisterwerk werden, ein Trash-Feuerwerk in 166 BPM: Gepitchter Schlumpfen-Gesang, hektischer Computerbeat und Nervtötung auf höchstem 90er-Niveau. Das Volk war begeistert: Der Mann aus Dorsten fand sich plötzlich auf Platz 1 der Single-Charts wieder, und der noch relativ junge Berliner Musiksender VIVA ließ die Zuschauer an einem sagenumwobenen Musikvideo teilhaben, in dem Mark ‚Oh biblische Szenen (inklusive seiner Geburt als Jesus!) beim intensiven Anblick einer Wasserzulaufs im Spülbecken betrachtet. Wow. Auch Dorsten kann Jerusalem.
Kaum ein Song der deutschen Nachkriegskulturgeschichte war möglicherweise unverdienter an der Spitze der Charts, aber zugleich stand er nun mal exemplarisch für jene Zeit, in der nahezu jeder Klassiker durch den Technoquirl musste. Und sollte die Geschichte von dem kleinen frustrierten Dorstener, der eines Tages die Welt mit übelstem Rammbocktechno behelligte, weil ihn die obligatorische Teilnahme an diversen Stadtfesten zur Weißglut brachte, nur erdacht sein – so macht das auch keinen Unterschied. Zumindest wäre es eine nachvollziehbare Erklärung. Für „Tears Don´t Lie“.
Aktuell: Neue Alben veröffentlichen, auflegen auf Festivals wie der „Nature One“ und zwischendurch Taschengeld dank Promi-Dinner – in der Mitte des Lebens eines Techno-DJs ist man zufrieden mit dem, was noch geht. Auch ohne Publikum.
Urteil: Derart konträr zum Original, dass es in den Ohren wehtut – doch auf jeden Fall die konsequenteste und bis heute unerreichte Zerschredderung einer Schlagerballade, wie es nur die DJs in den 90ern beherrschten. Totaler Mist, aber nicht ohne Genialismus.
Jan
https://www.youtube.com/watch?v=ChPV9ua6HII