Datum 1972
höchste Platzierung 1
Album Der Junge mit der Mundharmonika
Website http://bernd-cluever.de/

SCHLUMPFIG-TRÜBE MELANCHOLIE

So wie Sigrid S. dachten viele: „Lieber Bernd, jeden Tag denke ich an Dich. Ich vermisse Dich sehr. Wie gut das ich Deine Lieder jeden Tag hören kann. So ist es, als wärst Du immer noch hier.“ Das virtuelle Kondolenzbuch auf seiner vom Bruder gepflegten Website füllte und füllte sich und auf einmal schien es, Bernd Clüver sei kein längst vergessener Musiker zwischen Möbelhauseröffnungen und Bierzelten, sondern noch immer einer der größten deutschen Schlagerhelden gewesen. War er aber nicht, und ob der tödliche Treppensturz am 28. Juli 2011 in seiner Finca auf Mallorca nicht zuletzt seiner zunehmenden Vereinsamung und dem Hang zum Alkohol geschuldet war, lässt sich nicht wirklich ausschließen. Er ging letztlich jenen Weg, den so viele Schlagerstars der 70er Jahre gehen mussten: tief hinab in den Karrierekrater. Aber auch in diesem war und blieb er der „Junge mit der Mundharmonika“.

Weder besonders originell noch produktionstechnisch wirklich ausgefeilt präsentiert sich der Nummer 1-Hit des Winters 1972/1973, aber dafür umso rührseliger und melancholischer, so dass dem Zuschauer beim Angesicht des so unschuldig vor sich hin spazierenden Hildesheimers in der ZDF-Hitparade die Tränen in die Augens schießen mussten. Ähnliches war allerdings den Spaniern ein Jahr zuvor auch schon wiederfahren: Der Madrilene Micky hatte schließlich das Original geschrieben. „El chico de la armónica“ setzt natürlich ebenfalls auf das vielumsungene Instrument, dafür wird die Akustikgitarre noch vornehm von einem zärtlich hauchenden Hintergrundgesang dreier junger Damen begleitet, von denen sich vor allem die zwei volljährigen vor Hingebung gegenüber dem singenden Spanier fast zerschmelzen.

http://www.youtube.com/watch?v=ZVU4eI6ptNM&w=420&h=315

Nachdem Bernd Clüver mit seiner Coverversion vor dem deutschen TV-Publikum aufgetreten war, stürzten die deutschen Konsumenten wie wild in die Plattenläden, um sich die Single zu besorgen. Konsequenz: bis heute mehr als 1 Million verkaufte Einheiten, Goldene Schallplatte, Bravo Otto, Goldener Löwe von Radio Luxemburg, Goldenes Mikrofon und – natürlich – die Goldene Mundharmonika von den Hohner-Werken, einem bekannten Hersteller von Akkordeons und Mundharmonikas, der sich nach Clüvers Hit rasant steigender Umsatzzahlen erfreuen durfte und über die „Cross-Publicity“ vor Freude an die Decke gesprungen sein musste.

Dass Clüver, der nach seinem Mundharmonika-Hit unter anderem mit „Der kleine Prinz“ gleich erneut die Spitze der deutschen Hitparade erklimmen konnte, kein wirklicher One Hit-Wonder war, zeigte seine immerhin vier Jahre durchaus sehr solide verlaufende Karriere Mitte der Siebziger Jahre. Auch danach machte er das beste aus seinem bald nur noch bescheidenem Ruhm und vergnügte sich vornehmlich als Showact auf Kreuzfahrtschiffen. Seine Lebensphilosophie, die er in einem Interview 2004 bekanntgab, liest sich darum rückblickend wie eine nüchterne Zusammenfassung seiner wechselhaften Karriere: „Leben und leben lassen“…

Aktuell: Clüver verstarb 2011, die populäre Phase der Mundharmonika mutmaßlich schon früher.

Urteil: Schlumpfig-trübe Ballade voller Herzschmerz und keuschen Textkreationen („von der Barke mit der gläsernen Fracht“), die aber ihre Wirkung nicht verfehlt.

Jan

Bernd Clüver – Der Junge mit der Mundharmonika

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