Datum 1972
höchste Platzierung 8
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BETROFFENHEITSEPIK MIT BRITISCHEM AKZENT

„Zeit macht nur vor dem Teufel halt, denn er wird niemals alt, die Hölle wird nicht kalt. Zeit macht nur vor dem Teufel halt, heute ist schon beinah’ morgen.“ Das hätte gern auch leichtere Kost sein dĂĽrfen, womit sich der britische Popsänger Barry Ryan 1971 in den Musik-Hitparaden zurĂĽckmeldete. Statt die ĂĽblichen Floskeln eines liebestrunkenen Schwerenöters zum Besten zu geben, philosophiert Ryan doch lieber ĂĽber Themen wie die Vergänglichkeit, der wir uns alle unterwerfen mĂĽssten und darĂĽber, dass die Zeit  „nicht nur fĂĽr immer Sohn und Vater“, sondern auch eines Tages „dich und mich“ trennen wird. Soviel Betroffenheitsepik muss erst einmal verdaut werden, und wenn der 23-Jährige zusätzlich noch mit träger Schwermut seine Gesangsperformance entlang Nebel verhangener Eisenbahngleise vorträgt, wird dem Betrachter endgĂĽltig frostig um die Seele.

FĂĽr die einen war es eine wohltuende Abwechslung von dem drögen Schlagergequirle, das sich sonst in jenen Jahren durch die Radiostationen spĂĽlte, fĂĽr die anderen ein groteskes PseudolyrikgelĂ©e, welches sich nahtlos in das gesamte von Melancholie geprägte Oeuvre des in seiner Heimat längst vergessenen Interpreten einfĂĽgte. Fest steht jedenfalls: „Zeit macht nur vor dem Teufel Halt“ war sein letzter Top 10-Erfolg in Deutschland. Danach jagte er zunächst relativ vergeblich den groĂźen Hits der Vorjahre („Eloise“, „Kitsch„) hinterher, bis er sich schlieĂźlich hauptsächlich der Fotografie widmete.

Die Meinungen zu dem etwas verschrobenen Song sind inzwischen durchweg positiv: Auf dem einst vielbesuchten Schweizer Chartsforum hitparade.ch zeigen sich die meisten sehr angetan von der Nummer und vergeben mit Prädikaten wie „bombastischer Schlager“, „toller Text“, „starke Stimme“ und „erstklassiges Lied“ hohe Punktzahlen. Doch es gibt auch Ausnahmen: So äuĂźert sich ein offenbar englischsprachiger Zeitgenosse deutlich kritischer und meint: „Sorry, this song is no good and more of an ultimate attempt to cling on to his fading success.“

Wie auch immer, Ryan wusste schlieĂźlich selbst um die Bedeutung des Textes von „To Day“ (wie der Titel im Englischen heiĂźt) und dass jener auch auf ihn zutreffen musste. Richtig: Zeit macht wirklich nur vor dem Teufel halt. Und halt nicht vor einem larmoyanten Popschlagerknilch, dessen Karriere sich fortan auf andere kĂĽnstlerische Gebiete verlagern sollte.

Aktuell: So ist Barry Ryan heute hauptsächlich mit seiner Fotografie beschäftigt, und zwar durchaus erfolgreich: Seine Werke wurden sogar u.a. im Museum of Modern Art in New York ausgestellt.

Urteil: Eigentlich gefälliges, weil sehr melodisches Stück, das jedoch ein wenig zu sehr auf die Melancholietube drückt und im britischen Dialekt vorgetragen etwas albern wirkt.

Jan

Barry Ryan – Zeit macht nur vor dem Teufel Halt

3 Gedanken zu „Barry Ryan – Zeit macht nur vor dem Teufel Halt

  • Hallo, danke. Der Song ist mir wegen der Textzeile „Die Zeit trennt … Tanz und Tänzer“ in Erinnerung, die durchaus literarisches Potential enthält. Zumindest fĂĽhrte sie dazu, dass dieser Schlager häufiger diskutiert wurde als andere. (wenn auch seltener gespielt und getanzt)

  • Ich war 1971 gerade 6 Jahre, als ich dieses Lied hörte. Es fraĂź sich mit jedem Wort tief in meine Seele. Ich erkannte mich und mein Schicksal in vielen Passagen wieder. Fast alle Prophezeiungen in dem StĂĽck sollten mein Leben prägen: „..sie trennt nicht nur fĂĽr immer Sohn und Vater…“ . Ich wusste, dass mein Vater 2 Jahre später sterben musste. Oder: „..sie trennt auch eines Tages dich und mich..“. So trennte 1983 die Zeit,( das Schicksal) mich von meiner Partnerin, fĂĽr immer. Wie im Lied angekĂĽndigt. Oder: „..sie trennt Traum und Träumer..“. Ja, ich der ich ein Tagträumer war, werde bald durch die Zeit von meiner meinen Träumen getrennt. Dann läuft meine Zeit ab. Dieser Song beinhaltet fĂĽr mich keine zufälligen Zufallszufälle fĂĽr einen Heranwachsenden. Das Lied war des Schicksals Botschaft. Ich habe sie verstanden und danach leben mĂĽssen.

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